Dangast 1

Eine Erzählung

 

 

 

 

22.10.2020, Donners-Tag

 

 

1 / Sich zugunsten der Freude verhalten.

 

 

2 / Der problematischste Teil deiner Geschichte lässt sich eben so sehen: Das Ende der Freude.

 

 

3 / Schön war das Leben auf Reisen in einer guten Öffnung.

 

 

4 / Auch du hast das Leben schon gründlich missverstanden: Wolltest angenommen werden in dem, was dir widerfuhr, aber das hieß, Energien zu verstärken, die keinem guttun. Richtiger war: sich nur zu bemühen, in einer guten Öffnung zu bleiben.

 

 

5 / Zusammen reisen. Zusammen unterwegs sein. Dazu bedarf es einigen Geschickes. Seitdem du und auch sie nur Sachen äußern oder machen, die – auch – gute oder verträgliche Energien bringen, geht es noch so viel besser.

 

 

6 / Die Geschichte, die sich bei dir ergab, ist an mehreren Stellen dunkel. So dunkel, dass sie besser abwesend bleibt. Anwesend – als Gedächtnis – bleibt sie eh.

 

 

7 / Zur Fortschreitung guter Energie bei einem Paar, das sich richtig gut versteht, gehört: keine Vergleiche, keine Kritik an sich, kein Reden über zurückliegende Partner. Es reicht die unangestrengte Konzentration auf möglichst gute Energien zwischen zweien.

 

 

8 / Auf dem Weg zum Meer. Es kann schon lange vorher gespürt werden, etwa daran, wie sich die Luft neu zusammensetzt.

 

 

9 / Etwas skurril mutet die Fahrsituation an. Hinter der Fahrerin Platz genommen zu haben mit viel Raum und Büchern.

 

 

10 / 1987 in Blavand. Dänische Nordsee. Da hattest du deutlich naturwissenschaftliche Ambitionen. Recherchiertest genau, wie entsteht ein Priel, wie entsteht Marschland, wozu ist es da? Usw. Gut, dass auch das hinter dir liegt.

 

 

11 / Zur Kunst des Paarseins gehört auch, möglichst nichts vorwegzunehmen, nur in der Realisierung, also Gegenwart zu bleiben.

 

 

12 / Dazu gehört, auch möglichst keine Wünsche und kein Begehren zu äußern, sondern sich jeweils anstehender Realisierung hinzugeben.

 

 

13 / Dir ist, als seist du gerade erst auf die Welt gekommen. Und würdest noch tausend Jahr jetzt mit ihr leben wollen.

 

 

14 / Dangast. Ankunft Parkplatz. Erster Blick aufs Meer. Schlagartig heilsam.

 

 

15 / Die Weite, das Einander-nicht-bekannt-Sein unter Menschen, das Meer. Weiches flauschiges Kraut, dessen Bezeichnung du nicht wissen musst, das Ausplätschern einer sanften Wellenbewegung an einer stillen Stelle. Dieser überragende Friede – Wirkung – der Natur. Zeigt, wie weit 'der Mensch' in seinen Alltagen davon entfernt ist.

 

 

16 / Und immer mal wieder erscheint etwas in deinem Innern, das dich gefangen nehmen will und ggf. gefangen nimmt.

 

 

17 / Die Öffnung hin zum eigentlichen Leben, die verloren zu gehen droht.

 

 

18 / Gemeinsames Sehen. Der heilige Raum zu zweit.

 

 

19 / Im Hotelzimmer abends. Gute Energien, schlichte Einrichtung des geräumigen Zimmers, meist völlige Stille. Tageseindrücke ziehen noch einmal herauf: Ein Hase, der am frühen Abend in der Weite des Strandes ein wahnsinniges Tempo lief, er wirkte völlig orientierungslos. Ein Himmel am Abend, als habe er Feuer gefangen, die Glut breitete sich wie eine Decke über dem Kopf immer weiter aus. In einem breiten Streifen glühte es hingegen hell und durchlässig auf, ja schließlich leuchtend und glanzvoll. Ihr saßt auf barhockerhohen Sitzflächen und schautet über ein Mäuerchen aufs Meer. Der Drachen eines Kindes wirkte wie eine über-über-große Kaulquappe am Himmel. Das Meerwasser färbte sich vom Himmelsschauspiel violett. Drei Kunstwerke wurden in dieses Licht getaucht. Die »Jade«, sanftgrün und größer als ein Mensch, der »Kaiserstuhl« – ein überdimensionaler Thron im Meerwasser, ein gewaltiger Phallus aus Granit am Strand. Menschen, einige ehrfürchtig, standen an einem Geländer in der Höhe und schauten darauf hinab. Der dunkle Vorhang im Hotelzimmer, der bis zum Fußboden fällt, erscheint nun wie ein Schloss vor der Welt draußen. Und das alles scheint erst einen Sinn zu bekommen im Fluidum einer zärtlichen Berührung.

 

 

20 / Was kann gefühlt und gedacht werden in einer langen Hotelnacht? Der Reisetag war anstrengend . . ., sorgte für physische Müdigkeit, dabei etwas wie Erfüllung. Der Partner schläft, du sitzt im kleinen Schein der Nachttischlampe mit dem Rücken gelehnt ans Bett. Was lief in 57 Jahren durch, was lief *lebensgeschichtlich* durch, was läuft jetzt durch? Was heißt das heute und jetzt, sich zu sammeln, zu besinnen? Was ist schon geradezu tot, was lebt – was zittert – noch, was möchte noch wirklich leben? Der Hunger, der Durst nach einer Tasse Tee oder Kaffee? Was wird dadurch verhindert? Die »Essenz«, die von spirituellen Geistern so großartig übertrieben und mitunter wahr gelogen wird? Was aber, wenn es einem nicht um 'spirituelle Abenteuer' geht? Sondern, altmodischerweise, offenbar um die Tristesse der Trauer und um – ja verzerrte – Spuren von Menschen in der Erinnerung, bei denen wir uns womöglich einbildeten, sie geliebt zu haben? Und längst nicht mehr sind. Nach Jahren, auch das scheint mit all dem zu tun zu haben, warst du vor Tagen wieder im »Naturzoo« gewesen und sahst manches neu. Evolutionäre Vorfahren, Ahnungen von Ahnen und Ahnungen von Spuren. So der Bär, der plötzlich auf Hinterfüßen aufrecht stand und den Futterkasten in Gesichtshöhe durchwühlte nach Köstlichkeiten, die eben für ihn welche sind, und alles andre lieblos zur Seite und in den Raum hinein schmiss. Der Tiger, der keinen Aufenthalt in sich hat, ebenfalls auf zwei Beinen mächtig gegen das Gitter pochte bevor es Futter gab. Oder das Erdmännchen, das sich auf einem der Hügel, einer Aufschüttung erhob, sich gen Himmel reckte und seinen Schrei oder Laut von sich gab. Arten der Aufrichtung. Der Mensch, der also nur noch zwei Beine hat und aufrecht geht. Nach all diesen Zeiten, welcher Zeit entgegengeht?