Für wenn ich tot bin

(Uwe Johnson)

 

 

ich muss sprechen, und ich muss es öffentlich machen.

ich kann mich jetzt nicht an Begründungen aufhalten.

 

Gestern Abend – ich wusste dass du dort bist, ich vermutete es – musste ich plötzlich aufbrechen und dich sehen.

Auch das warf ich mir als selbstbezogenes Motiv vor, denn mehr als deutlich hattest du mir signalisiert, dass du Ruhe vor mir brauchst.

 

Als ich deinen Roller vor dem Gebäude sah, blieb mein Herz, die Zeit für einen Moment stehn. Ein Jahr war es Glück für mich gewesen, dieses Fahrzeug vor dem Gebäude stehen zu sehen, zu wissen, dass du bereits da bist.

 

Nun saß ich da, in dem Raum, und du an einem andern Ende, neun Monate lagen dazwischen.

 

Als du sprachst, wagte ich dich das erste Mal anzusehen. Ich war dir dankbar, ohne dass es etwas zu danken gegeben hätte. Ich sah, dass ich dich nicht zugrunde gerichtet habe. Was bilde ich mir ein!

 

Beim Tanz wurde ich bleischwer. Ich hatte keinen Blick für andere. Und dich durfte ich nicht ansehen.

 

In mir lief die gesamte Zeit zwischen uns ab. Ich hatte mit dir, fast zwei Jahre ist es nun her, wieder zu leben angefangen. So viele Momente, von zauberhaften Situationen und Kontexten überlagert.

 

Tränen liefen aus meinen Augen.

 

Meine Seele blutete.

 

Ich sah deinen Gang, deinen durchaus eigen-artigen Gang bei den Tanzbewegungen, und liebte ihn noch viel mehr als zuvor.

 

Es schrie aus mir heraus I c h l i e b e d i c h merkst du es nicht willst du es nicht was ist hier los.

 

Und kriegte mich wieder ein bei den Fakten: Ich hatte dich verlassen. Du hattest mich gewollt.

 

Ich hatte dich auch gewollt.

 

Es war mir in einigen Punkten zu eingeschränkt gewesen.

 

Ich hatte nicht die Geduld gehabt.

 

Ich habe nicht aufgehört dich zu lieben.

 

Es sind neun Monate vergangen, und ich liebe dich noch mehr als zuvor.

 

Und dann kam der Moment der Begegnung. Ich stellte mich vor dich hin. Und du gingst nicht weg, womit ich rechnete. Ich bot dir meine Hand, und du nahmst sie. Und wir sahen uns an. In meinen Blick mischten sich abstruse Dinge, das alte Lied. Ich konnte dir selbst jetzt nicht zeigen, was ich dir zeigen wollte.

 

Hätte das eine Rolle gespielt?

 

Ich denke nein.

 

Was hätte ich dir denn zeigen wollen. Meinen Schmerz?

Dir . . . meinen . . . Schmerz?

Dir, der du viel größere Schmerzen wegen uns hattest!

Ich war ja weich gefallen. In die Arme einer Frau.

Du hattest eine grundlegend schlimme Zeit hinter dir.

 

Es hätte keine Rolle gespielt, was ich dir gezeigt hätte, und das sagte auch dein Blick.

Aber was sagte dein Blick?

Ich denke er sagte vor allem, dass du ein paar Grad weitergerückt bist.

Dass du in einem anderen Leben bist.

Und ich nickte dir im Innern zu, gut.

 

So eine blöde vitale Energie mischte sich in meinen Blick, die ich so kaum bin.

Nur dir gegenüber. Die Scheu.

Alles verhinderte meinen Ausdruck. Mir schien, du ließt empört den Blick sinken.

Ich war dir dankbar, als du dich noch einmal darauf einließt, sich anzusehen.

Es ging etwas besser, etwas.

Wurde aber auch schwer erträglich.

Da nahmst du mich, und nahmst mich in deinen Arm.

 

Du hattest solche Schmerzen wegen mir, wegen uns

und du

nahmst

mich

in deinen Arm.

 

Das werde ich dir nie vergessen.

 

Obwohl ich auch denke, nichts wissend,

du tatst es auch ein wenig aus Mitleid.

Du sahst mich in Unklarheit, in «irgendeiner« Not

und die Situation war schwer auszuhalten

und tatst es einfach

dennoch

du tatst es

 

und gingst weiter, was sonst?

 

Am Ende verließ ich gleich den Raum. Was wollte ich tun?

Ich wollte noch nicht gehn.

Was wollte ich dir sagen?

Es gab weiterhin nichts zu sagen, von dir aus, ich spürte es.

Ich hatte dich nicht gewollt, ich hatte eine andere Freundin, und hatte zu gehn.

Ich fand Worte. Du sagtest:

«Was möchtest du denn jetzt von mir?«

Ich empfand es als eine Art Todesstoß und spürte dein Recht.

 

Ich hatte daraufhin nichts mehr zu sagen und ging.

 

Im Wagen fühlte sich mein Kopf an, als sei er gespalten worden.

 

Ich will da nichts zu erklären versuchen, der Kopf erklärt es eh nicht richtig.

 

Ich hab nur einen Gedanken dazu.

 

Ich halte die Trennung zu dir nicht aus. Und es ist längst mein Problem.

 

Du bist da weiter als ich.

 

Ich habe die Beziehung nicht verkraftet und will sie auch nicht verkraften.

 

Nur: Im Blick zurück wartet nicht das Leben.

Ich verbrachte diese Nacht noch einmal ganz in unserer Zeit.

Im Blick zurück, wenn er so aussieht, warten Melancholie und Tod.

 

Das weißt du, das spürst du.

Und daher bist du jetzt dort, wo du bist.

 

Es, ich hätte dich umgebracht, wärst du noch an dieser Stelle.

 

Ich bin noch an dieser Stelle, weil ich weich fiel und es nicht brauchte, mich von dir abzugrenzen.

 

Was geblieben ist, ist nun mein Problem.

 

Ich bin «stehen geblieben«, nicht du.

 

Jedenfalls an dieser Stelle.

 

«Was möchtest du denn jetzt von mir?«

Dein Ton war tödlich und ich spürte dein Recht.

 

Ich möchte dich lieben, spricht es aus mir.

 

Ich möchte mit dir über Kunst sprechen, ich möchte mit dir auf den Flohmarkt, ich möchte diesem frechen frohen Menschen in dir begegnen, den du sonst niemandem zeigen konntest.

 

Ich möchte es für eine Nacht. Ich möchte es für einen Tag. Ich möchte es für Tage und Nächte. Und dann wieder frei sein.

 

Das wolltest du nicht. Wie verständlich.

 

«Was möchtest du denn jetzt von mir?«

 

Im Grunde hatte ich mich mit dir verheiratet und bin noch an dieser Stelle.

Manchmal rutscht mir fast dein Name heraus, wenn ich zu andern rede.

 

Ich habe Scham, es einzugestehen, aber deine Einschränkungen haben mir zu viel ausgemacht.

 

Ich bin nicht monogam.

Ich suche immer wieder jemand.

 

Aber ich bin dir auch treu.

Das ist meine Art der Treue. Und ich bin nun mit ihr allein.

 

 

Vielleicht denkst du, gut, das hab ich noch zu schlucken, aber dann ist der Wahnsinn auch bald vorbei.